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    Mitglied Avatar von Zardoz
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    Beatrice von Joris Mertens




    Da ist diese Frau. Nennen wir sie Amélie … nein, besser vielleicht … Beatrice. Sie ist jung, aber auch nicht mehr ganz jung. Immerhin jung genug, um noch Träume zu haben. Von was sie träumt? Wir wissen es nicht. Vermutlich unser aller Traum vom privaten Glück. Aber sie ist alt genug, um zu fühlen, wie bereits die Zeit vergeht, wie sie langsam verstreicht, stetig an ihre Tür klopft, wenn die Dämmerung einbricht, wenn sie abends alleine in ihrer kleinen Mansardenwohnung im Bett liegt und noch ein Buch liest. Gerade ist es „Bonjour tristesse“ von Sagan. Morgens fährt sie mit dem Zug in die anonyme Großstadt. Akkurat gekleidet, ein klein wenig keck. Auch hier liest sie ihr Buch, immer in der Hoffnung, dass ein netter, junger Mann sie anspricht. Sie ahnt, dass es der falsche Ort ist, die Hoffnung wahrscheinlich unerfüllt bleiben wird. Dann lässt sie sich vom Bahnhof in der Menschenmenge zum Kaufhaus treiben. Ein riesiges Kaufhaus. Hier gibt es alles, was das Herz begehrt. Nur eben nicht, was Beatrice sucht. Gefunden hat sie ihre Arbeit, ihre Profession. Sie ist gerne Verkäuferin. Hier spürt sie das Leben. In den Pausen, während des gemeinsamen Mittagessen mit den vielen Kolleginnen. Sie unterhält sich, scherzt, ist mittendrin. In der Handschuh- und Lederwarenabteilung berät sie Kunden. Es bereitet ihr Freude, anderen bei der Auswahl zu helfen. Nach Feierabend geht es zurück in die Wohnung. Ein Tag wie der andere. Wenn, ja wenn da nicht eines Morgens dieser Beutel gewesen wäre. Rot wir ihr Kleid. Er steht in der Bahnhofshalle. Jemand muss ihn vergessen haben. Niemand scheint ihn zu beachten. Als er am nächsten Abend noch immer dort steht, überwiegt die Neugier. Sie fasst sie sich ein Herz und nimmt ihn mit. Der Inhalt wird ihr Leben verändern. Wird sie ihr Glück finden? Werden sich ihre Träume erfüllen? Wir wünschen es ihr.


    Wieder ein kleines Meisterwerk von Mertens. Ein Farbtupfer in der Masse der gesichtslosen Bildergeschichten. Der Comic kommt ganz ohne Worte aus. Worte würden nur schaden. Es sind die Bilder, die faszinieren, uns durch die Geschichte führen, uns fühlen lassen, was Beatrice fühlt, uns zum Spekulieren anregen und zum Nachdenken bringen.


    Eine bittersüße Geschichte voller Poesie. Ein Märchen von einer armen Verkäuferin auf der Suche nach dem verwunschenen Prinzen. Immer zwischen Hoffnung, Enttäuschung und Erfüllung. Wir leiden mit Beatrice, freuen uns mit ihr und wünschen ihr nur das Beste. Sie ist ein Mensch, den man in den Arm nehmen und drücken möchte: „Es wird schon, warte ab, irgendwann kommt jemand, wird dich finden.“ Mertens nimmt uns mit, auf eine emotionale Achterbahnfahrt. Läuft die Geschichte anfangs noch auf normalen Gleisen, verlässt sie im weiteren Verlauf gewohnte Bahnen und lässt mit einem überraschenden Schluss aufhorchen.


    Die Nerds unter uns, die Vielleser und -seher - wer ist das hier eigentlich nicht - werden jetzt einwenden, dass ihnen bestimmte Dinge bekannt vorkommen. Klar. Mertens erfindet das Rad nicht gänzlich neu. Aber die Mischung stimmt. Ironischerweise verbinde ich Beatrice mit wundervollen Woody Allen, mit „The Purple Rose of Cairo“, obwohl dessen Filme eher dialogüberfrachtet sind. Aber mit auch der „Fabelhaften Welt der Amélie“, wahrscheinlich wegen der Poesie. Selbst „Shining“ fiel mir ein, obwohl das Genre ein gänzlich anderes ist.


    Das Artwork genieße ich. Mertens Stil ist bereits aus „Das große Los“ bekannt. Es sind Storyboards, die uns Schritt für Schritt zeigen, was gerade passiert. Wer die ebenfalls sehr zu empfehlende halbdokumentarischen Comic über Wim Wenders gelesen hat, wird sofort wissen, wovon ich spreche (Stéphane Lemardelé, Das Storyboard von Wim Wenders, erschienen bei splitter). Mertens kann auch zeichnen. Die großen, stimmungsvollen Bilder der Großstadt, diesmal nicht nur im Regen, sind grandios. Highlights sind für mich auch die kurzen Sequenzen mit Großaufnahmen vom Gesicht, die Mimik und Emotion von Beatrice ausdrucksstark zur Geltung bringen. Für den, der sich die Zeit nimmt, gibt es unglaublich viel zu entdecken. Ich habe wiederholt zurückgeblättert und auch zum Vergleich „Das große Los“ noch einmal herausgekramt. Es scheint dieselbe Stadt zu sein, dieselbe Zeit.


    Fazit:
    Der Band ist etwas für Feinschmecker, gehört zu den Besten auf der Jahresliste von Splitter. Ich hoffe auf mehr.


    Nachtrag:
    Hier geht es zu dem weiteren Meisterwerk von Mertens: „Das große Los“
    https://www.comicforum.de/showthread...-Joris-Mertens
    Geändert von Zardoz (23.10.2023 um 10:26 Uhr)

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